Achtsamkeit
Dezember 2019
Im Magazin wird das Konzept Achtsamkeit erläutert und Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit aufgezeigt. Anhand verschiedener Bereiche wie Arbeit oder Schule wird erklärt, wie Achtsamkeit integriert werden kann und welche Vorteile damit verbunden sind.
- Achtsamkeit als Prävention
- Bessere Beziehungen in der Schule
- Meditieren fürs Unternehmen
- Zuhören statt Recht haben
- Früh fördern lohnt sich
- Im Takt bleiben
Achtsamkeit als Prävention
Achtsamkeit hilft nicht nur im Alltag, sondern auch bei Stress und in Krisen. Aber was ist Achtsamkeit überhaupt genau?
Text: Yuka Nakamura
Kennen Sie solche Situationen? Sie erinnern sich, zwei Minuten nachdem Ihnen eine Person vorgestellt wurde, nicht mehr an deren Namen. Sie surfen im Internet oder schauen fern und essen dabei gedankenlos zu viele Snacks. Es fällt Ihnen schwer, bei einer Arbeit zu bleiben, weil Ihre Aufmerksamkeit unstet und abgelenkt ist, z.B. durch das Smartphone oder Emails. Während eines Gesprächs schweifen Ihre Gedanken immer wieder zu etwas ab, was in der Vergangenheit oder Zukunft liegt.
Alle diese Beispiele haben mit einem Mangel an Achtsamkeit zu tun. Achtsamkeit hat in den letzten Jahren in den Bereichen Therapie, Pädagogik, Prävention und Wirtschaft viel von sich reden gemacht und mittlerweile taucht das Wort auch in der Umgangssprache auf. Doch was ist damit eigentlich gemeint?
Jon Kabat-Zinn machte das ursprünglich aus der buddhistischen Tradition stammende Konzept der Achtsamkeit bekannt. Er versteht unter Achtsamkeit eine besondere Art, aufmerksam zu sein. Es ist eine Aufmerksamkeit, die im gegenwärtigen Moment verankert ist - im Hier und Jetzt. Sie ist absichtsvoll und nicht-bewertend. Es handelt sich um eine andere, tiefere Form der Aufmerksamkeit als sie im Alltag üblich ist. Während unsere Aufmerksamkeit normalerweise ständig von einem Gegenstand zum nächsten springt oder unsere Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft abschweifen, ist Achtsamkeit die Fähigkeit, sich einem Objekt oder einer Tätigkeit ganz zuzuwenden - mit einer ungeteilten, interessierten Aufmerksamkeit.
Wenn wir von Achtsamkeit sprechen, müssen zwei zentrale Merkmale vorhanden sein: Zum einen die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, zum anderen eine innere Haltung von Unvoreingenommenheit und Interesse.
Aufmerksam im Hier und Jetzt
Mit Achtsamkeit sind wir uns bewusst, was wir gerade in diesem Moment wahrnehmen, was wir tun und was um uns herum geschieht. Egal, ob beim Gehen, Stehen, Sitzen oder Liegen - jede Aktivität wird bewusst ausgeführt. Wir sind ganz «da», ganz «anwesend», wir sind «ganz bei der Sache».
Diese Art von Präsenz stellt sich jedoch nicht zufällig ein, sondern setzt eine bewusste Absicht und Lenkung der Aufmerksamkeit voraus - eine Fähigkeit, die systematisch eingeübt werden muss. Während unsere Aufmerksamkeit normalerweise stark auf die Reize in der Umwelt reagiert und sich davon leicht ablenken lässt – Stichwort: Handy, Werbung, Lärm... – bedeutet achtsam zu sein, dass wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit bewusst wählen und dabei bleiben. Und dass wir zu diesem Fokus zurückkehren, sobald wir bemerken, dass die Aufmerksamkeit abgeschweift ist. Besonders hilfreich ist es dabei, zu lernen, die Aufmerksamkeit im Körper zu halten, was diese sofort wieder in die Gegenwart zurückbringt – z.B. indem man sich angewöhnt, die Fusssohlen auf dem Boden oder die Bewegung der Bauchdecke beim Ein- und Ausatmen zu spüren.
Achtsamkeit bedeutet auch, sich der Eindrücke an den verschiedenen Sinnespforten gewahr zu sein - den Geruch des Regens genauso zu registrieren wie die Wärme des Sonnenlichts auf der Haut, den Schmerz im Rücken genauso wie den Geschmack eines feinen Essens. Wenn Achtsamkeit da ist, sind wir buchstäblich 'bei Sinnen'. Indem sie uns erdet, wirkt Achtsamkeit der Tendenz entgegen, sich in negativen Emotionen und Gedanken zu verlieren und hilft der Psyche, sich zu stabilisieren.
Offen und unvoreingenommen
Der zweite wichtige Aspekt von Achtsamkeit ist die damit einhergehende innere Haltung von Offenheit und Nicht-Beurteilen. Die gegenwärtige Erfahrung wird so wahrgenommen, wie sie gerade ist – unabhängig davon, ob sie angenehm oder unangenehm ist oder ob sie uns passt oder nicht. Es geht nicht darum, keine ethischen Urteile mehr zu fällen, sondern lediglich darum, die gegebene Erfahrung, so wie sie ist, anzuerkennen, sie also weder zu verleugnen noch zu verdrängen.
Das Gegenteil von Achtsamkeit könnte als Leben auf 'Autopilot' bezeichnet werden. Wenn keine Achtsamkeit vorhanden ist, ist die Aufmerksamkeit unruhig, zerstreut, nicht 'bei der Sache', oft in Gedanken verloren und es mangelt an Gewahrsein für das, was man gerade tut oder erlebt. Auch das Verhalten ist weniger bewusst und stark von Gewohnheitsmustern und Impulsen geprägt. Wie die Forschung zeigt, ist ein solcher Zustand mit weniger positiver Stimmung und weniger Leistungsfähigkeit verbunden.
Stress bewältigen
Wozu ist Achtsamkeit gut? Worin liegt ihr Wert? Auf der grundlegendsten Ebene ist der Achtsamkeit per se eine subtile Freude inhärent: präsent und geistesgegenwärtig zu sein, fühlt sich besser und freudvoller an als abwesend und zerstreut zu sein. Darüber hinaus zeigt die Forschung mittlerweile, dass sich Achtsamkeit auf vielen Ebenen positiv auf die psychische und physische Gesundheit auswirkt.
Besonders bekannt wurde Achtsamkeit im Zusammenhang mit der Bewältigung von Stress und Krankheiten, da sie gerade bei belastenden Ereignissen hilft, bewusster und gelassener damit umzugehen. Angesichts von Krisen und Belastungen neigen Menschen oft dazu, unwillkürlich mit einer Stressreaktion zu antworten – sei es durch Flucht- oder Kampfverhalten oder durch Erstarren. Konkret kann sich dies in einer Vielzahl ungünstiger Verhaltensweisen zeigen wie Gereiztheit, Vermeidungsverhalten, Alkoholkonsum etc. Solche Reaktionen sind fatalerweise nicht nur suboptimal, sondern ziehen ihrerseits oft negative Folgen nach sich. Ein Teufelskreis kommt in Gang. Doch wenn Achtsamkeit da ist, können solche automatischen Reaktionen unterbrochen und bessere Weisen des Umgangs gefunden werden. Die erwähnte Präsenz im Hier und Jetzt sowie die gelassene, unvoreingenommene innere Haltung ermöglichen ein Innehalten in der Situation und schaffen Raum und Zeit, um nicht impulsiv, sondern bewusst und kreativ zu agieren. Genauso wie Viktor E. Frankl es in dem berühmten Zitat prägnant ausdrückte:
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
Achtsamkeit als Prävention
Die in den letzten 20 Jahren enorm gewachsene Forschungsliteratur zu Achtsamkeit zeigt in vielen weiteren Bereichen Hinweise auf positive Wirkungen von Achtsamkeit:
- Gehirnfunktionen- und Strukturen: Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Selbststeuerung werden positiv beeinflusst.
- Psychische Gesundheit: Achtsamkeit wird präventiv und therapeutisch eingesetzt im Hinblick auf Ängste, Depressionen und zur Förderung der Resilienz.
- Physische Gesundheit: Das Immunsystem wird gestärkt, Entzündungsreaktionen im Körper gemildert und das Schmerzempfinden gelindert.
- Soziale Kompetenzen: Empathie, Mitgefühl und emotionale Intelligenz werden gefördert.
Die heutige Forschung bestätigt, was Kontemplative schon seit vielen Jahrhunderten wussten: Achtsamkeit lässt sich nicht nur einüben und trainieren, sie trägt auch in vielfältiger Weise dazu bei, das eigene Wohlbefinden zu fördern und das Leben mit all seinen Herausforderungen besser zu meistern.
Dr. phil. Yuka Nakamura
Psychologin, MBSR-Lehrerin
CFM Zentrum für Achtsamkeit, Zürich
yuka.nakamura(at)centerformindfulness.ch