left right open close next download link mail search
 
Zur Übersicht
Übergänge
Psychische Gesundheit

Übergänge

Juli 2019

Schuleintritt, Lehrbeginn, erste Arbeitsstelle, Familiengründung, berufliche Neuorientierung, Pensionierung: Lebensübergänge sind eine Chance, können aber auch eine grosse Herausforderung sein. Die Artikel in dieser Ausgabe zeigen an verschiedenen Beispielen und Lebensbereichen, wie Präventions- und Beratungsmassnahmen zum Gelingen von Übergängen beitragen.
- Biografische Übergänge: Herausforderungen und Chancen
- Von der Schule in die Arbeitswelt
- Paare im Übergang zur Elternschaft
- Selbstbestimmt und gesund älter werden
- Wieder mal nach draussen

..?
..?

Biografische Übergänge: Herausforderungen und Chancen

Die zunehmend flexible Gestaltung von Lebensläufen führt dazu, dass
Übergänge häufiger und weniger gut vorhersehbar geworden sind. Um Übergänge erfolgreich zu meistern, ist eines besonders wichtig – die gesunde Hoffnung auf das Gelingen.

Text: Pasqualina Perrig-Chiello

Biografische Übergänge beschreiben Perioden des Umbruchs und der Veränderung im Leben eines Menschen. Sie sind gekennzeichnet durch das Aufgeben alter Rollen und die Auseinander­setzung mit neu zu definierenden Selbst­bildern und sozialen Rollen. Je nach Art sind biografische Übergänge kleinere oder grössere Heraus­forderungen, jedenfalls aber Entwicklungs­aufgaben, welche auch mit Chancen verbunden sind. Das Ausmass der Herausforderung hängt primär von den verfügbaren körperlichen, psychischen und sozialen Ressourcen ab. Die Bewältigung ist aber auch abhängig von externen Faktoren, wie etwa vom Grad der Vorhersagbarkeit oder auch vom auslösenden Faktor des Übergangs. So sind altersnormierte Übergänge wie etwa Pubertät, Menopause oder Pensionierung besser voraussehbar und damit auch planbar. Dies im Gegensatz zu nicht alters­normierten, sogenannt stillen (d. h. gesellschaftlich weniger sichtbaren) Übergängen, wie Scheidung, schwere Erkrankungen oder Arbeits­platz­verlust, die weit weniger kontrollierbar und daher umso stressvoller und psychisch belastender sind. Und gerade diese externen Faktoren haben sich in den letzten Jahr­zehnten stark verändert.

Veränderte Lebensläufe 
Der demografische und gesellschaftliche Wandel hat menschliche Lebens­läufe grundlegend verändert. Über Jahrhunderte hinweg waren sie plan- und antizipierbar. Nach dem Motto «alles zu seiner Zeit» waren Lebens­zyklen gesellschaftlich getaktet und reguliert. Diese Regulierung bot Orientierung und Sicherheit, schränkte aber auch Freiheiten ein. In der post­modernen Gesellschaft sind alters­normierte Übergänge weniger klar umreissbar, da Lebens­läufe flexibler und individuell gestaltbar geworden sind. 
Die Liberalisierung von Werten ist mit vielen Freiheiten verbunden, hat aber auch eine Kehrseite. Denn eine Gesellschaft, die den Wandel als einzige Konstante kennt, generiert unweigerlich auch eine Viel­zahl «stiller» biografischer Übergänge, die entsprechend als eine Privat­angelegenheit angesehen werden. Wechselnde Partner, Wohnorte, Arbeitsstellen und berufliche Betätigungen gehören zu heutigen Biografien und sind das Ergebnis des Primats von Mobilität, Flexibilität, Selbstbestimmung und Recht auf persönliches Glück. Der einstige gesellschaftliche Druck wurde von einem Originalitäts­druck abgelöst, der nicht selten zu einer Überforderung der Selbst­steuerungs­kompetenz führt. Auch die Tatsache, dass biografische Über­gänge primär eine individuelle Angelegenheit geworden sind, macht die Sache nicht einfacher: Man ist letztlich für das Gelingen oder Miss­lingen der Lebens­gestaltung einzig und allein verantwortlich.

Biografische Übergänge bewältigen
Warum gehen bei vergleich­baren Bedingungen gewisse Menschen unbeschadet durch biografische Über­gänge und andere nicht? Mögen die äusseren Bedingungen einen Rahmen setzen, der für den Einzelnen häufig schwer zu ändern ist, so sind Einstellungs­werte und Bewältigungs­strategien entscheidend für einen guten Übergang. Menschen mit einer hohen Bewältigungs­kompetenz zeichnen sich durch eine ausgeprägte Handlungs­orientierung aus. Im Gegensatz zu lageorientierten Menschen, die stark auf den Ist-Zustand fixiert sind und sich als Opfer der Umstände sehen, sind handlungs­orientierte Menschen eigenverantwortlich und zukunfts­bezogen. Sie haben ihr Ziel vor Augen und versuchen es, unbeirrt von misslichen Umständen, zu erreichen. Hierbei spielt insbesondere eine Charakter­stärke eine wichtige Rolle: die Hoffnung. Mit Hoffnung ist nicht passives, schicksalhaftes Abwarten gemeint. Vielmehr bezeichnet die Positive Psychologie damit einen disposi­tionellen positiven emotionalen Status, der aus zwei Elementen besteht: Das eine umfasst das bewusste Wahrnehmen der eigenen Fähigkeit, Lebensziele zu setzen und Wege der Realisierung zu finden (Pathways). Das andere fokussiert den Willen, diese Lebensziele zu verfolgen sowie die Überzeugung, diese auch zu erreichen (Agency). Empirische Befunde zeigen eindrücklich die positive Wirkung von Hoffnung auf das psychische Wohl­befinden über alle Alters­gruppen hinweg. Dabei ist nicht primär das strategische Wissen über mögliche Wege zum Erreichen der Lebens­ziele entscheidend, sondern der Wille und der Glaube, gute Lösungen zur Über­windung von Hindernissen und Unsicherheiten zu finden. Da biografische Über­gänge aber auch von sozialen Rahmen­bedingungen abhängen, müssen präventive Massnahmen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene ansetzen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die Identifikation solcher Übergangs­phasen sowie die Schaffung günstiger Kontext­bedingungen für Früh­erkennung und Beratung. Eine gezielte Früherkennung ist aber nur möglich, wenn niederschwellig über Prozesse und Hilfsmöglichkeiten informiert wird. Bei der Beratung geht es primär um resilienzfördernde Strategien sowie um die Stärkung sozialer Netze über alle Alters­stufen hinweg.

Wege zur Resilienz

1.  Wechsel als Teil des Lebens akzeptieren.
2.  Krisen nicht als unüberwindliches Problem betrachten.
3.  Opferrolle verlassen, aktiv werden.
4.  Realistische Ziele setzen.
5.  An die eigene Kompetenz glauben  / Lösungs-, Handlungs­orientierung.
6.  Langzeit­perspektive einnehmen, langer Atem, Zukunfts­orientierung.
7.  Für sich selbst sorgen  / Verantwortung für sich selbst übernehmen.
8.  Soziale Kontakte aufbauen und erhalten (Familie, Freunde, Gemeinde, Kirche …)

Quelle: www.apa.org/helpcenter/road-resilience

Individuelle Wege ins Rentenalter

Die zunehmend individuelle Gestaltung von Lebens­läufen widerspiegelt sich in den unterschiedlichen Gestaltungs­mustern des Übergangs in die Pensionierung der Babyboom-Generation (Jahrgänge 1946–1964). Gemeinsam ist ihr, dass sie bezüglich Bildung und Gesundheit bedeutsam besser da steht als frühere Generationen und dass sie sich weniger an lineare Lebens- und Berufs­verlaufs­vorstellungen sowie starre sozial­politische Regelungen hält. So ging ein gutes Fünftel der 64- bis 74-Jährigen in der Schweiz 2016 einer Erwerbs­tätigkeit nach. Es sind dies zum einen selbstständig Erwerbs­tätige und / oder Leute mit einer höheren Bildung. Zum anderen sind es Männer und insbesondere Frauen, die eine prekäre finanzielle Lage geltend machen. Eine weitere Gestaltungs­form ist das nachberufliche Engagement vor allem in Form von Freiwilligen­arbeit. So stellen die 65- bis 75-Jährigen gemäss Freiwilligen-Monitor Schweiz 2016 im Alters­gruppen­vergleich die grösste Gruppe der informell Freiwilligen dar. Andere Pensionierte holen in dieser Phase Aktivitäten nach, die sie aufgrund ihres beruflichen Engagements hintanstellen mussten. Letztlich gibt es noch diejenigen, die die Pensionierung als Befreiung sehen und in ihrem Alltag auf Selbstrealisierung und Selbstgestaltung setzen. Die Gestaltungs­möglichkeiten sind sowohl von persönlichen Ressourcen (Gesundheit, Charaktereigenschaften, Familie) als auch von gesellschaftlichen, betrieblichen und sozialen Faktoren abhängig.

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
pasqualina.perrigchiello(at)psy.unibe.ch